PÖSSL-DIALOGE Im Wohnmobil durch die Galaxis Europa
Unterwegs in unserem zum Wohnmobil ausgebauten Kastenwagen der Marke Pössl kommentieren wir das, was wir auf der Fahrt sehen und erleben, schwadronieren und philosophieren über Land und Leute, über Alltäglichkeiten und Merkwürdigkeiten und das mal wunderbare, mal sonderbare Leben in einem rollenden Haus.
Teil 1: Von Berlin nach Hajdúböszörmény (Ungarn)
1. Szene
LILA:
Kasimir?! Auf dem Schild steht gar nicht mehr DRESDEN! Ich glaube, wir haben vor lauter Quatschen mal wieder die Abfahrt verpasst!
KASIMIR:
Kann sein, kann aber auch sein, dass die Schilder vertauscht werden. Wo kommt man eigentlich hin, wenn man immer, wirklich immer, die Abfahrt verpasst. Ich schlage vor, dass wir, immer wenn wir
wieder mit hundert Sachen an einem Ortsschild vorbeidonnern, wo wir hätten abbiegen sollen, geradeaus fahren. Dann könnten wir rein zufällig auch Rumänien erreichen. Und da bleiben wir einfach
einmal stehen. Komm. wir schmeißen das Naiv weg und folgen dem Mond. Wir bewegen uns so fort wie die alten Seefahrer!
LILA:
Stopp! Nicht das Navi rausschmeißen, bist du verrückt! Das brauchen wir noch, wenn wir in den nebligen Karpaten herumirren. Gib her!
Wenn wir immer geradeaus fahren, also auf dieser Autobahn bleiben, kommen wir.. warte ich gucke mal auf die Karte, die haben wir ja auch noch irgendwo.... also mit diesen Faltkarten komme ich
einfach nicht klar, wo ist denn jetzt oben und wo unten? Ist das vorne oder hinten?
Warte, ich habs! Also, wenn wir alle Abfahrten ignorieren, landen wir erst in Krakau und dann in der Ukraine. Ich weiß nicht...
Dem Mond zu folgen, gefällt mir - aber dann können wir nur nachts fahren.
KASIMIR:
Gut! Folgen wir den Satelliten. Das muss man sich mal vorstellen: Zigtausende von diesen Geräten am Himmel mit Rechenleistung bis zu Pi des „Sankt-Nimmerlein-Tages“, Codes, so kompliziert, dass
niemand mehr weiß, wo der Schlüssel liegt, und jeder ist mit unseren neuen Sternen verbunden, mit diesem kleinen Gerät hier, und warum das alles? Weil die relativ simple Zickzackfalz des
Faltplanes uns überfordert. Dresden ganz patent-gefaltet für immer verloren gegangen. Komm, lass uns der Google-Platzanweiserin einen Namen geben, wir taufen dich auf den Namen….
LILA: "Tussi!?“
KASIMIR (etwas widerwillig): Okay… Sag mal, ist das hier etwa der legendäre „vergessene“ Osten Deutschlands?
LILA: Ja, könnte der Wilde Osten sein --- hoffentlich wird hier nicht scharf geschossen.
KASIMIR: Ich mach mal das Fenster runter. Mal sehen, wie der wilde Osten klingt. Oh, ich höre überall Heulen und Zähneklappern! Ist ja grauenhaft, als ob ein Drachen hier
wütete, ist doch schön hier eigentlich. Hier, pass mal auf: Ich halte meine Mütze in den Wind und schon habe ich alles Gejammer gefangen. Hör! So, und jetzt legen wir sie zur Seite, bei nächster
Gelegenheit wird sie reingewaschen und dann auf einer Leine aufgehängt! Du wirst sehen, selbst die schlimmsten Totengesänge lassen sich in Rosendüfte verwandeln! Hier pack ins Handschuhfach, da
kommen alle Souvenirs rein - aber pass auf, dass kein Heulen entweicht!
LILA: Die Mütze ist gut verstaut, da kann gar nichts mehr entweichen! Schade nur, dass du sie jetzt nicht tragen kannst – ich mag dich mit Mütze! Ohne natürlich auch.
Küss mich mal! Vorsicht! Man, das war knapp. Da kommt ein Parkplatz, Zeit für einen Fahrerwechsel.
Tanken müssen wir auch mal. Schmutzigen Diesel! Glaubst du für die Pösslfahrten kommen wir in die Hölle?
KASIMIR: Ja, wenn es im Fegefeuer schiefläuft. Da sitzt man dann auf seinem Berg. Jeder auf seinen Berg aus Müll, Unrat, Trümmerresten, Ausschuss, Schutt und Schmutz, Kot, Staub
und Plunder. Und um uns herum eine reine weiße Wüste, ganz klar und ohne jeglichen Fleck, keine Unebenheiten bis zum Horizont. Dann eine Stimme: Wenn es dir gelingt, deinen Berg abzutragen, dann
trete ein und siehe das Licht! Dann fängst du an, mit dem Besen des Fegefeuers, den Feger des Herrn, alles weg zu kehren, schön alles unterm Sand und wenn du dann am Stichtag immer noch nicht
deinen Berg weg geschuftet hast, dann geht es ab herunter die Höllenrutsche, voll rein in den Schlamm deines eigenen Lebens wieder zurück. Schlechter als es jetzt läuft, kann es also nicht
kommen! Ich geb‘ Gas, Christi Pösslfahrt!
2. Szene
LILA:
Das war knapp! - mit dem letzten Tropfen schmutzigen Diesels noch die Tanke erreicht. Vielleicht wäre es auch schlau gewesen, erst in Tschechien zu tanken, da ist es glaube ich billiger. Oh, du
hast Colorado gekauft! Lecker! Lass mir ein paar von den Weißen mit Lakritz in der Mitte übrig. Jetzt gebe ich das Steuer für die nächsten 200 Kilometer nicht mehr aus der Hand. Wir müssten doch
eigentlich auch bald mal die Grenze erreicht haben. Das zieht sich ganz schön, wenn man Landstraße fährt. Guck mal, Störche haben die hier auch! Eigentlich schön, so über die Dörfer zu zuckeln -
ich glaube wir sind ganz nah an der polnischen Grenze. Schade, dass der Osten Deutschlands so abgehängt worden ist. Hier wohnt doch kaum noch einer, guck mal, hier stehen ganz viele Häuser leer.
Zum Teil sind die schon verrottet und verfallen. Lost Places!
KASIMIR: Schau mal, die Coloradotüte hier, das ist Deutschland. Die weißen Kokosdinger das ist der Strand von Büsum, diese ekligen ungeklärte-weiße-Masse-Eier die Voralpen in
Bayern, die Lakritzbrocken hier das ist der schmutzige Pott, was meinst du, wo Ostdeutschland ist? Ich sage es dir: die sind gar nicht mehr dabei. Kannst du dich noch an die Karamelllinsen
erinnern? Hat immer jeder weggeschmissen, die waren nicht ganz so purer Zucker und ganz hart, passten irgendwie nicht so schön in unseren Bunte-Mischung-Magen, eben die DDR, zähes, hartes
Karamell. Und ich bin mir sicher, dass die nicht rausgeflogen sind, weil sie das schöne Paradies störten, so die Wahrheit, sondern, man wird gesagt haben: aus produktionstechnischen Gründen! Aber
ich mag es hier, ich mag die Melancholie des Stillgelegten, wie da hinten, was ist da zu lesen? VEB Backwaren. Volkseigen! Das kennen wir gar nicht, dass etwas mal dem Volk gehörte, Naja,
Karamelllinsen eben. Weißt du, was ich mit dem Laden hier gemacht hätte? Ich hätte den Staat der Klöster gegründet, alle Karamelllinsen zu Selbstversorgerorten mit Direktanschluss zum
Großen und Ganzen, aber natürlich ohne Gott und Volk. Ein Philosophenstaat! Haben sie vermasselt, wollten lieber in die Coloradotüte!
LILA: Also ich stoppe mal, dann kannst du ein Foto vom volkseigenen VEB-Backwaren-Gebäude machen - das kommt in unser Lost-Places-Album.
KASIMIR: Hier, guck, was für eine schöne Ruine auf dem Foto. Kannst weiterfahren. Was ist da zu lesen? Feine Schokowaffeln mit Orangencreme für den volkseigenen Appetit. Soll
einer sagen, dass Ostdeutschland die Süße des Lebens nicht zu schätzen wussten.
Ich muss lachen. Wir stopfen uns Glücklichmacher rein, wo es doch glücklicher als satt nicht geben dürfte und wir, wir schaffen Depots für Energie, die niemals kommt. Wir sind wahrhaftig
schlechte Unternehmer, unser Körper ein volkseigener Betrieb. Ach so Essen, in Tschechien vielleicht?
LILA: Ja, ich finde, wir schaffen uns jetzt ein Depot an, das heißt: Wir essen! Wenn du die ganze Zeit davon sprichst, werde ich immer hungriger! Außerdem können wir dann die
gescheffelte Energie abschöpfen, wenn wir in den rumänischen Wäldern mit Bären kämpfen müssen oder von Wölfen gejagt werden. Dafür gibt es doch diese Reserven! Stell dir vor, eine heulende Meute
ist hinter dir her, und du knickst ein, weil du tagelang weder Schokowaffeln mit Orangencreme noch Brot gegessen hast, ganz zu schweigen von Eiern, Fleisch oder Käse! Man muss auf alles gefasst
sein. Das Leben ist kein Ponyhof, es kann jederzeit ein Bär um die Ecke kommen. Ich halte jetzt mal an, und wir machen uns ein Käsebrot – wir haben doch vorhin beim Penny Käse gekauft,
oder?
KASIMIR: Du meinst, den Käseersatz zugelassen zum Verkauf durch die deutsche Käseordnung! Ok. wo sind wir hier? Ist das schon Tschechien. Mensch waren das noch Zeiten, als man
durch die Grenzen noch lebendigen Geographieunterricht erteilt bekommen hat. Und diese Grenzgebiete sind sowieso kompliziert, da leben die einen, als auch die anderen. Tschechischer Bürgermeister
in Thüringen, Deutscher Landgutbesitzer in Böhmen. Alles möglich an den Rändern des Landes, Verwandtschaft und Nachbarschaft schlägt den Kaiser, der ins Feld reitet, Hurra! Hier mein Nachbar und
selbsterklärter Verwandter aus Tschechien: Emil Zapotek, der beste Läufer aller Zeiten, die ruhmreichste Bierflasche auf der Langstrecke, weil er Pilsener soff vor seinen heldenhaften Läufen.
Legendärer Satz von ihm: Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft“ Ich füge hinzu: Lila und Kasimir pössln. Weißt du was der Zapotek gelernt hat? Der war Schumacher. Bestimmt haben die Kunden
es sich in seinem Laden erst einmal bequem gemacht, wenn er ihnen sagte: Ich laufe die Schuhe erst einmal für sie ein. Der gehört ganz bestimmt zu meinem All-Star-Team. Ich begrüße das Land der
Zapoteks und der Pan Taus, auch so ein großer Geist. Tolles Land, dieses Böhmen. Hast du eigentlich auch einen oder eine, die ganz oben steht in deiner Favoritenliste? Gib mir mal das Messer für
den Käseersatz, Danke!
LILA: Man soll ja nichts verkommen lassen, aber nach diesem Stück Käseersatz kaufen wir so was nicht mehr, okay? Schmeckt ziemlich ekelhaft! Ab jetzt kaufen wir leckere Sachen
auf Märkten und in kleinen Läden, die gibt es hier doch bestimmt - und vor allem in Rumänien - so kleine Tante-Emma-Läden, in denen man frische Eier und Gemüse aus Nachbars Garten bekommt. Oder
haben die auch Penny, Lidl und Co? Reich mir mal bitte die Tomaten rüber, die schmecken zwar auch holländisch aber was soll‘s. Haben wir Gurken?
Mein tschechischer Favorit? Als Kind mochte ich Olek und Bolek - aber ich glaube die beiden sind Polen. Pan Tau, ja.... Und natürlich Milan Kundera! "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins"!
Das könnte ich mal wieder lesen... Und, hier: Schwejk, der brave Soldat - von Jaroslav Hasek - das war ein Typ, also der Schwejk! Ich muss allerdings gestehen, dass ich das Buch nie gelesen
haben, sondern nur den Film kenne. Wen haben wir noch? Kafka! Das melancholische Prager Urgestein! Und Rilke ist ja auch in Prag geboren... Die Tschechen haben ganz schön was
hervorgebracht.
Wir könnten doch auch einen Abstecher nach Prag machen. Wenn die Tussi nicht lügt, liegt das direkt auf unserer Route.
KASIMIR: Über den Käseersatz im Besonderen und über die Simulation von Leben und lieben im Allgemeinen werden wir noch zu sprechen haben! An Prag fahren wir vorbei, wenn es
beliebt. Ich habe diese Stadt schon zehnmal besucht, und zehnmal habe ich keinen Golem gesehen. Jetzt reicht es, jetzt gehe ich davon aus, dass der Golem ein Hirngespinst ist. Als ich das letzte
Mal in der Stadt war, fiel mir auf, wie viele seltsame Skulpturen hier gibt. Die allerseltsamste: Kafka auf den Schultern eines riesigen leeren Anzugs – ach, Moment mal, vielleicht war das ja das
wandernde Hirngespinst, der Golem! Und noch eigenartiger: Ein Monsterbaby dreimal so groß wie man selbst mit gesichtslosem runden Kopf - oder auch riesengroß: eine Pornodame aus Platten
aufgestapelt, auf Knien, präsentiert dir deine Scham, aber die kann man nicht erkennen, als sei sie verpixelt. Ich glaube in Prag ist der irre Beelzebub unterwegs, echt die Stadt der
Unheimlichkeit. Dass der Witz nicht weit weg wohnt, liegt auf der Hand. So wie in dem einen Kapitel vom braven Soldaten: Schwejk im Gefängnis, wartet auf seine Hinrichtung, warum auch immer, die
Gründe bleiben unheimlich. Da kommt ein Priester, der will ihm Trost spenden, aber Schwejk missversteht die Situation und denkt, er müsse dem Priester Trost geben, also erzählt er ihm heilsame
Geschichten, die jedoch alle einen blutigen Ausgang haben. Irgendwann flieht der Priester aus den Armen dieses „teuflischen“ Trostspenders. Könnte eine Prager Redewendung sein: Nein, wie
unheimlich, so witzig!
Du sag mal, ist das die Elbe hier? Hammer, haben wir uns jetzt verfahren?
LILA: Die Elbe? Ja, klar! Wir sind richtig, die fließt hier und macht einen Bogen um Prag herum. So wie wir. Ich muss jetzt auch nicht reinfahren. Obwohl ich Prag liebe.
Unheimlich finde ich die Stadt nicht, aber melancholisch irgendwie und auch skurril. Obwohl ich jetzt noch mal neugierig geworden bin auf den Golem! Sehe ihn und seine unzähligen Doppelgänger
nachts durch Prag schleichen, sich immer wieder verwandelnd, unzählige Hirngespinste, die sich in die Träume der Menschen einmischen. Und am Tage ruhen sie in einer Gruft tief unterhalb des
jüdischen Friedhofs. Seite an Seite. Ein unsterblicher tönerner Schattenreigen. Komm, wir suchen uns jetzt einen Platz zum Übernachten. Schau doch mal auf der park4night-App nach, ob es in der
Nähe von Prag einen Stellplatz gibt. Aber nicht zu nah an der Stadt, damit die Golems uns nicht belagern können.
KASIMIR: Vor Golems muss sich doch niemand fürchten, außer die Elbe vielleicht, sonst würde sie ja nicht diesen Bogen um Prag machen. Hier, ich habe einen Platz gefunden, einen
öffentlichen Parkplatz links rein. Ok, Motor aus, erster Tag unserer Reise zu Ende geschrieben. Na, schau mal an, ist ein Treffpunkt für die tschechische Jugend, dreimal Ford Focus getunt und
aufgemotzt mit Kerbe in der Front zum lässigen Anlehnen und zwei Megaantennen. Wozu brauchen die eine zweite Antenne? Kann mir nur denken, dass das der direkte Draht zum Gott der Coolness ist.
Weißt du nicht mehr weiter mit Janine, frag Steve McQueen. Müssen wir uns jetzt eigentlich Sorgen machen um Hof und Grund angesichts dieser zweifelhaften Bande?
Wie schätzen sie die Lage ein, Frau Oberwachtmeisterin Lila Mondschein?
LILA: Ganz schön kalt hier! Hoffentlich funktioniert die Heizung.
Mit der jugendlichen Ford-Focus-Bande nehmen wir es spielend auf. Ich glaube aber, die sind harmlos, die haben nur Bier und Sex im Kopf. Ich mache schon mal das Bett. Übrigens: Wer ist
Janine?
KASIMIR: Die Allianz von Bier und Sex, das eine vernebelt, das andere lockt und schon hat man das Gefühl, man höre ein Horn weit entfernt im Dunst, Bewusstsein außer Kraft
gesetzt und Dasein läuft auf Automatik. Automatik - Das würde ich mir auch für unser Bett heute Abend wünschen, einen Schalterdruck und es klappen sich die Bretter zurecht, das Laken zieht sich
auf, die Kissen und Decken schweben auf ihre zugewiesene Stelle. Aber unser Pössl ist echt vintage, so mechanisch und wenig elektrisch. Hier nimm deinen Schlafsack noch, falls du frierst.
Spätestens im Jahre 2030 werden wird alle in Besitz einer Universalbedienung sein, wahrscheinlich so ein Kasten, mit dem wir sprechen können, dann heißt es den ganzen Tag: Mach Bett, Mach Stulle,
Fahr los, Klapp aus, Spiel ab, Koch hoch und ganz wichtig: Seid still! Weißt du, was ich glaube, was heutzutage die meistausgeübte Tätigkeit ist? Ich sage es dir: der Schalter - und Tastendruck.
Tastaturen, Armaturen, Schaltflächen überall, aber 2030 werden wir alle nicht mehr tasten und schalten, sondern immer Sprachbefehle geben. Und ich gehe noch weiter. Die ganze Welt voller
Indikative und was folgt daraus? Hier Kommunikation im Jahr 2030: Mütze auf! Kalt - Stiefel an! feucht - Tür auf! Bibbern - Tür zu! Winter - Hör zu! Feigling - Aufgepasst! Ohrfeige - Mal sehen,
ob das heute schon gelingt. Fenster runter und rausgerufen: Herhören! Ruhe im Karton!!! Keiner beachtet mich, na ja, logisch, wir leben ja noch in der mangelhaften elektromechanischen
Zwischenwelt, der Befehl brauch noch einen Arschtritt, um ausgeführt zu werden. So! Licht aus, Mondschein. Mann, ich höre die Typen immer noch. Wann werden sie einsehen, dass Bier und Sex in
gepflegterer Kulisse als ein öffentlicher Parkplatz noch viel viel schöner ist.
LILA: Ich finde Sex auf einem öffentlichen Parkplatz gut….
KASIMIR: Auch auf die Gefahr hin, dass die tschechische Polizei an der Tür klopft? Schließlich hat sie für die Einhaltung der Verkehrsordnung zu sorgen!
LILA: Von der tschechischen Polizei lasse ich mir keine VERKEHRS-Ordnung vorschreiben! Das wäre ja noch schöner! Sex nach Paragraph sowieso... Ich mache aber mal das Licht aus,
damit niemand sieht, dass wir möglicherweise eine Ordnungswidrigkeit begehen.
3. Szene
LILA: Ist noch Kaffee da? Danke. Das war doch eine ruhige Nacht – scheint zu klappen mit der App und den freien Stellplätzen. Kein Überfall und keine Polizei, die den
innerpössligen Verkehr regeln wollte.
KASIMIR: Noch leben wir in Zeiten einer Verkehrsordnung, da steht drin: Küssen in der Öffentlichkeit erlaubt, vögeln verboten wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, was
Erregung in diesem Zusammenhang bedeuten mag. Ein Blick in die Kristallkugel sagt uns aber, dass im Jahr 2050 es keine Verkehrsordnung mehr geben wird, keine Tabus, keine Scham. Was dann wohl
ablaufen wird. Dann wird Sex vielleicht so etwas wie sein wie heutzutage eine Kunstperformance, eine situationsbezogene, handlungsbetonte und vergängliche, präziser mit dem Orgasmus endende
künstlerische Darbietung eines Paares. OK, entschuldige, du bist ja die, die in die Zukunft schauen kann. Ich aber auch, hier: das ist meine Kristallkugel! Mein Feuerzeug. In der Flamme steht
alles geschrieben. Frag mal was, was du wissen willst für das Jahr 2050!
LILA: Weißt du, Kasimir, ganz ehrlich, am frühen Morgen ist es mir beinahe egal, was in der Flamme geschrieben steht. Oder in der Kristallkugel. Habe ja die Augen noch gar nicht
richtig auf. Und 2050! Weißt du, wie alt ich dann bin? Nein, weißt du nicht, ich habe dir mein wahres Alter bis jetzt ja erfolgreich verschwiegen. Aber ich will sowieso nicht wissen, was mir die
Zukunft bringt. Stell dir vor, ich frage, ob ich 2050 überhaupt noch lebe, und in deiner Flamme steht, dass mich dann schon längst die Würmer gefressen haben. Oder, noch mehr, ich frage, ob die
Erde 2050 überhaupt noch existiert - und dann siehst du, dass sie zwar nach wie vor im Weltall schwebt, fröhlich und unbeschwert, wie eh und je, dass aber kein Mensch mehr auf ihr wandelt...
Okay, eine Frage habe ich doch an deine weise Flamme: Wird 2050 der Säbelzahntiger zurückgekehrt sein?
KASIMIR: So wird es sein, sagt die Flamme. Sie gibt auch eine Erklärung. Weil der Mensch die Evolution durch eigenmächtige Ansprüche ihr in das Handwerk gespuckt hat, spuckt sie
ihn aus, der Virus Mensch hat sich hingeschleppt, aber jetzt ist die Evolution wieder bereit, das zu tun, was sie am besten kann, sich ganz langsam verändern. Aber: jetzt so wieder in Kraft und
Saft ganz ohne diesen zähen giftigen Schleim, läuft alles viel zu schnell, ebenso wie es läuft, wenn man eine Fahrradkette vom Dreck befreit und sie ölt, es entsteht höchste Unfallgefahr, Also
legt die Evolution einen Neustart hin, zurück zur Natur, wieder die richtige Geschwindigkeit einstellen, am besten zum Zeitpunkt, als Hunde und Katzen die Herren der Welt waren, die Zeit des
Säbelzahns, und dann geht es ganz langsam wieder vorwärts, aber: diesmal ohne diese Affenmissgeburt, Schade, das wird das nicht miterleben
dürfen.
So, mach die Augen auf. was siehst du, wohin wir heute fahren werden? Budapest? Die Julischka, die Julischka aus Buda-Budapest, die hat ein Herz voll Paprika, das kein' in Ruhe lässt!
LILA: Die Julischka, die Julischka aus Buda- Budapest, die hat ein Herz aus Paprika, die halte ich ganz fest! Oder so ähnlich... Wer hat das noch mal gesungen? Ach ja, Marika
Röck! Die war, glaube ich, gar keine Ungarin, hat sich nur als solche getarnt, hat sich Leidenschaft und Temperament mit diesem Fake übergeworfen, wie andere sich ein Cape. Eine ungarische
Tarnkappe gewissermaßen. Eigentlich kam die Röck wahrscheinlich aus Wanne-Eikel oder Castrop-Rauxel. Ist auch egal. Ich stehe jetzt mal auf. Nutze die Zeit, in der wir Affen noch auf diesem
Planeten wandeln dürfen - ohne vom Säbelzahntiger gerissen zu werden. Aber, Achtung! Der rumänische Bär ist auch nicht ohne! Vielleicht sind‘s die Bären, die den Weltuntergang überleben -
vielleicht verschlafen sie ihn einfach in ihrer Winterhöhle, und im Frühjahr sind sie dann die Herren der Welt. Wenn sie allerdings die einzigen sind, außer den Asseln natürlich, die den Supergau
überlebt haben, müssen sie zu Kannibalen werden. Oder Vegetarier. Beeren finden die Bären ja zu Genüge in den Karpaten. Okay, jetzt stehe ich aber wirklich auf. Wir wollen heute ja noch Budapest
erreichen. Die Julischka, die Julischka, aus Buda-Budapest....
KASIMIR: Alter Trick, den Weltuntergang in einer Höhle verschlafen! Du fährst, unsere mobile Apokalypse oder unsere Arche Noah, es ist noch nicht entschieden. Aber jetzt gilt:
Budapest sehen und sterben. Vor dreißig Jahren war ich schon einmal da, damals mit einem VW-Bus und zwei Postpunktypen. 1989! Die Ostdeutschen lehnen sich über die Grenze zwischen Ungarn und
Österreich und ziehen Streichhölzer, da draußen was Neues sehen oder zu Hause ist es doch am schönsten. Den Satz, den wir sehr oft gehört haben: Zuhause habe ich Arbeit.
LILA: Ich wette, wir verpennen den Weltuntergang im Pössl - guck mal auf die Uhr: Wir haben schon wieder mehr als neun Stunden geschlafen! Ist aber auch zu gemütlich hier im
Pössl-Bett... Ich fahre jetzt aber trotzdem mal los. Was sagt denn die Tussi, wo geht es lang? Ich war übrigens noch nie in Budapest. Überhaupt erst ein einziges Mal in Ungarn - von
Bratislava aus sind wir mit unserem Künstlertrüppchen zum Essen über die Grenze gefahren, in so ein riesiges Touristenrestaurant auf dem Land, mit bestickten Tischdecken und bemalten Blumenvasen,
in denen getrocknete Blumensträuße steckten, und allerlei anderem Schnickschnack, der von der Decke hing, und mit als Zigeuner verkleideten Fidlern - das Essen war aber lecker. Apropos: Wo wollen
wir Frühstücken?
KASIMIR: Der Pössl eine mobile Höhle, das Bild gefällt mir. Ich hatte gestern einen seltsamen Traum. Ich lag auf einem OP-Tisch, mein Gehirn war offen, ich konnte aber mit dem
Arzt reden. Ich: Was ist los? Er: Jede Entzugsmaßnahme, sie vom Leben zu entwöhnen, ist gescheitert. Jetzt müssen wir operieren. Booah, manchmal denke ich, besser, wenn man sich an seine Träume
nicht erinnern kann. Was ist das hier? Die Elbe? Und warum sind das solche Steigungen? Ich schau mal. Hier, das sind die weißen Karpaten, Trencin der Name der Stadt. Ein uralter Ort mit Burg und
einem Stadthenkerhaus! Stadthenker - was für ein Geschäft: An seiner Tür stand vielleicht: Wir kommen zu Ihnen nach Hause oder Wir empfehlen: Ein langes Leben mit Tod! oder TOD! EXTRA ENDGÜLTIG
oder HABE MEHR VOM LEBEN MIT TOD oder NUR DER TOD IST ECHT. Mit dem richtigen Slogan kann man alles verkaufen, auch das Ende. Entschuldige, ich bin heute so in Endzeitstimmung, aber eigentlich
dabei ganz gut drauf. Zurück zum Leben. Frühstücken? Wo auch immer! Der Hunger befiehlt den Ort.
LILA: Ich muss mich konzentrieren - das ist ganz schon steil und kurvig hier. Und jetzt fängt es auch noch an zu schneien! Deswegen heißen die weißen Karpaten wohl weiße Karpaten
- Schnee im Mai! Die Scheibenwischer wischen schlecht, die müssen wir mal einstellen. Okay, Augen zu und durch! Guck nicht nach rechts, da geht es steil runter. Wenn wir diese Passüberquerung
überleben sollten, will ich ein deftiges Omelett. Vielleicht sogar mit Würstchen. Wir sind schon in der Slowakei und haben immer noch nichts gefrühstückt, außer einem mickrigen Apfel! Mein
Blutzuckerspiegel ist im Keller. Aber ja, ich achte trotzdem auf die Straße, ich weiß, neben uns ist ein Abgrund, tiefer als der Keller, in dem mein Blutzuckerspiegel nach Fett und Salz lechzt.
Da ist ein Lokal! Ich halte mal an.
KASIMIR: „Unter Blutzucker versteht man im Allgemeinen den Glucoseanteil im Blut. Glucose ist ein wichtiger Energielieferant des Körpers. Das Gehirn, die roten Blutkörperchen und
das Nierenmark sind zur Energiegewinnung auf Glucose angewiesen, alle anderen Körperzellen gewinnen die Energie vorrangig im Fettstoffwechsel. Glucose ist in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu
überwinden und versorgt so das Gehirn.
Ich bewundere dein Empfinden für den Körper. Ich realisiere die Situation innen drin immer erst, wenn ich geschockt bin. Bis dahin heißt die Losung: Blut-Hirn-Schranke bleibt so lange
geschlossen, bis alle Einreisepapiere vorliegen. Dass ich was zu essen brauche, sagt bei mir das echte Gehirn, der Magen. Ich habe Hunger!
LILA: Kasimir, Hilfe! Meine Hirnleistung ist vermindert?! Ich stehe kurz vor einem Krampfanfall?! Einem Schock?! Wo kommen denn all diese Informationen her? Hast du Medizin studiert oder
Philosophie? Ach, ich sehe schon, du tust nur so schlau und liest diesen ganzen Sermon heimlich bei Google ab! Mein Gehirn sitzt auch im Magen. Lass uns reingehen, das Lokal sieht einladend aus -
aber wahrscheinlich würde ich das in diesem kritischen Zustand von jeder Kaschemme sagen.
4. Szene
KASIMIR: Bratislava! Ja, hast mir ja schon einiges über diese Stadt erzählt und jetzt sehe ich sie. Eigentlich zwei Städte, aus unserer Perspektive betrachtet, der Donaubrücke,
hinter uns die Stadt des Massenmenschen und da vorne die alten Häuser vom Stand und Rang, irgendwie zwei Zeiten auf einen Fleck. Eine Stadt ist wirklich mit einem menschlichen Organismus
vergleichbar, der Marktplatz der Magen, die Burg der Sehapparat, die Straßen die Adern und Venen, und die Donau? Vielleicht der Blutkreislauf, ja, das gefällt mir, es mag heutzutage nicht mehr so
wichtig sein wie vor 100 Jahren und trotzdem, das Wichtigste an Bratislava bleibt, dass es an der Donau liegt. Wenn ich auf so eine alte Stadt schaue, dann fühle ich mich an alte Drachen
erinnert, die ganz lebendig bezeugen, was einmal war, aber irgendwie erloschen ist, denn die Schlange ist vom Helden unterworfen worden, jetzt liegt sie träge dar, gepanzert und geschuppt, aber
die neuen Zeiten gehen über dieses alte Wesen hinweg. Aber schön so ein alter Drache!
LILA: Oh ja, Drachen sind faszinierend! Ich hatte bei unserem Bratislava-Kunst-Projekt auch erst vor, etwas über die Burg und einen Drachen zu schreiben oder was auch immer dazu
zu inszenieren - aber dann ist es doch ganz anders gekommen. In rumänischen Märchen wimmelt es übrigens von Drachen - ganz anders als in unseren Volksmärchen. Und Drachinnen! Interessant, oder?
Der Drache in weiblich. Das kannte ich vorher noch nicht, in meiner Vorstellung sind Drachen immer männlich, aber das ist ja unmöglich, dann könnten sie sich ja nicht fortpflanzen. Legen Drachen
eigentlich Eier?
KASIMIR: Frau Drachin. Das ist tatsächlich seltsam. Mal überlegen: Also der Drache ist eigentlich ein Kerl, so wie der Teufel ein Kerl ist, oder hat man schon einmal etwas von
einer Teufelin gehört, einer Frau als Urheberin von Chaos und Bösem? Nee, ist immer ein so einer mit einem Schwanz, der dir über die Schulter flüstert: Leben? Wozu denn, du eingebildeter
Tunichtgut! Hier, schluck Feuer! Und dann kommt es ja immer zum Heldenkampf, Mann gegen dicke fette Schlange mit so einem Katzenkopp. Und ich erinnerte daran, dass der Held ja nichts tut,
weil es das Ehrenamt erfordert, der kann sich Gewinn erhoffen, eine richtig schöne Jungfrau, ganz, ganz unberührt, denn wie hätte sie denn auch berührt werden können! Da war ja immer dieser
Drache, der den Zugang zu ihrer weiblichen Scham verhinderte. Tja und jetzt kommen mir ernsthafte Zweifel, ob es sich beim Drachen tatsächlich um einen Kerl handelt, denn wer hat, zumindest in
den alten Zeiten, die Vulva bewacht? Das war doch die Schwiegermutter, also eine Frau. Du hast Recht, der Drache ist eine Drachin, aber: Ihre Eier sind was ganz heiliges und der sexgierige Held
muss irgendwie an der Alten vorbei, koste es was es wolle, in der Not auch mit dem Schwiegermutterschwert.
LILA: Du bist übrigens im chinesischen Sternzeichen ein Drache! Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, damit du nicht übermütig wirst und durch die Gegend schwirrst und
reihenweise Frauen entführst. Aber jetzt ist es raus!
Übrigens: Budapest lassen wir heute links liegen. Nein, rechts, wenn ich das hier auf der Karte richtig sehe. Nein, auch falsch, wir fahren mitten durch! Cool! Und danach suchen wir uns einen
netten Stellplatz, ja?
Guck mal, der Ort hier heißt Mosonmagyáróvar - wir sind also längst in Ungarn! Mosonmagyáróvar - was für ein Name, den kann sich doch keiner merken. Klingt wie ein Ort aus "Der Herr der Ringe".
Das ist Ödland, dort wohnt keiner mehr, sind alle von den Orks verspeist worden. Und da geht es nach Györsövényház! "Von Mosonmagyáróvar nach Györsövényház" - das wäre auch mal ein Roman- oder
Filmtitel! Und, guck mal: Na-gys-zent-já-nos! Da machen wir die nächste Rast, das liegt bestimmt im Elbenwald.
KASIMIR: Die Sprache der Ungarn erkläre ich mir so: Die waren ja mal Teil eines wahnsinnig großen Reiches, zusammen mit den Österreichern. Aus dieser Zeit stammen auch diese
wahnsinnig langen Begriffe, reiner Narzissmus dieses Ungarisch. Hier ein Beispiel: legeslegmegvesztegethetetlenebbeknek, übersetzt: Wiedersehen! Echt feine Pinkel diese Ungarn, sollten sich
auch sprachlich wieder an vulgäre Zeiten gewöhnen.
Was denn? Schon wieder über die Donau?
LILA: Ja, das muss die Donau sein. Die fließt hier überall. Und jetzt geht es noch mal über eine Brücke? Wie viele Arme hat dieser Fluss denn bloß?
Guck mal, das ist ein Touristenort hier, lauter Cafés und Restaurants und überall Boote auf dem Wasser. Wollen wir mal anhalten? Kasimir? Kasimir!? Vorbei gepösslt! Schade! Aber, ja, wir müssen
heute noch bis Budapest.
Hier, hör mal: Das Ungarische wird der ugrischen Untergruppe der finno-ugrischen Sprachen zugeordnet, die wiederum, zusammen mit der kleinen Gruppe der samojedischen Sprachen, die uralische
Sprachfamilie bilden. Und hier steht auch noch, dass die Ungarn ursprünglich aus Sibirien kommen. Jetzt weißt du Bescheid. Von wegen k.u.k.- Pinkel! Vielmehr hartgesottene Steppenbewohner. Guck
mal, da läuft einer, der sieht auch ziemlich kernig aus!
KASIMIR: Ich sage dir: innen drin Dschingis Khan und außen Franz Ferdinand! Weißt du, was ich mal gerne machen würde. Nicht mit einem Kreuzfahrtschiff, sondern mit einem
Unterseeboot durch die Donau reisen. Mann, da unten muss die ganze Geschichte Europas liegen. Die Gebeine der ertränkten Täufer in Passau, in Münster die alten Altäre des Domes, den die
Reformatoren gestürmt hatten, im Donautal die fehlkonstruierten Betonbrücken für Hitlers Autobahn West A1, in Wien die eingeschmolzenen Toten der Pest, in Bratislava alle Möbel der Deutschen,
weil die Stadt nicht mehr Pressburg heißen sollte, in der Nähe der Elisabethinsel die Schuhe von Sissi, weil sie ihr neues Königreich Ungarn barfuß betreten wollte, in Esztergom der ganze
Schrott, mit welchem den Osmanen eingeheizt wurde, in Vukovar die dreihundert Schweine, die zusammen mit einigen Kroaten von den Serben massakriert worden. Die Donau sieht alles und vergisst
nichts und alles, was in Europa passiert, nimmt in Donaueschingen seinen Anfang und mündet in Sulina in das Schwarze Meer. Die Donau ist eine riesige Schlange, Jahrtausende alt, aus einigen
Tropfen wächst ihr Leib, dann frisst sie sich fett, will schier platzen und am Ende erschöpft sie sich, verschwindet einfach nirgendwohin. Vor Sulina gibt es eine Felseninsel, nur Stein sonst
nichts. Weißt du, wer sie als erstes erwähnt hat? Platon der Allwissende, und weißt du, was er über sie gesagt hat? Niemand hält sich auf der Insel auf über Nacht, denn jeder, der dies tat, ist
verschwunden. Wurde nie wieder gesehen! Noch was hat er gesagt: Dieser Felsen sei die Spitze von Atlantis!! Wirklich wahr ! In Donaueschingen beginnt die Reise und auf Atlantis endet sie. Guter
Slogan für eine Kreuzfahrtschiffsreise.
LILA: Okay, das könnte man so vermarkten: "Von Donaueschingen bis Atlantis!" Oder: "Von Atlantis bis Donaueschingen!" - für die Looser! In einem Unterseeboot - hier müsste es
natürlich "Unterflussboot" heißen - würde ich allerdings Platzangst bekommen! Das kommt noch von dem Film "Das Boot" - als ich den geguckt habe, hätte ich beinahe einen Atemstillstand bekommen,
so emphatisch war ich. Besser wir fahren AUF dem Fluss. Dazu bräuchten wir ein Hausboot oder etwas ähnliches, jedenfalls etwas mit einem Motor, damit wir durch alle Flauten schippern können. Das
wäre doch cool! --- Wir könnten aber auch mal komplett an der Donau entlang pössln - die Donau-Pössl-Passage gewissermaßen. Das geht aber nicht bis Sulina, da kommt man nur mit
dem Boot hin. Auf diese Felseninsel davor möchte ich auf jeden Fall auch mal! Stell dir vor: Keiner, der dort über Nacht blieb, wurde je wiedergesehen, sagt Platon. Das könnte doch auch heißen,
dass die alle über Nacht unsichtbar geworden sind und da jetzt noch rumhängen.
Stell dir vor: wir zwischen lauter Unsichtbaren! Aber wenn sich tatsächlich, wie Platon annahm, das sagenumwobene Atlantis darunter verbirgt, und die sich jetzt alle im Schwarzen Meer, in
Korallen- Villen und Muschel-Palästen ein schönes Leben machen, dann finden wir sie! Du hast doch einen Tauchschein!
KASIMIR: Du traust mir einiges zu. Ich schlage vor, du kommst mit, wenn du Mumm hast, 2000 Meter tief zu tauchen. Was wir da nicht alles finden werden! Die Säulen des Herkules
zum Beispiel. Atlantis ist ja überflutet worden, weil das Wasser des Mittelmeeres sich durch einen Bruch in der Meerenge des Bosporus in dieses Tal ergossen hat, zuvor hieß das Schwarze Meer
nämlich „Kleine Pfütze, in die sich die große Schlange ergießt". Herkules, nichts anderes als ein Held der Stadt Atlantis hatte es nun sich zur Aufgabe gemacht, die Säulen der Stadt gegen die
hereinbrechenden Wassermassen zu verteidigen, nichts mit Säulen des Himmels, und das über 30 Jahre, dann war aber Atlantis versunken und was blieb ist die Felseninsel als der Berggipfel Atlantis.
Und noch etwas werden wir finden: Ganz unten auf dem Boden versammeln sich hunderte von Schiffe, untergegangene Schiffe und sie sind alle prächtig erhalten, weil da unten gibt es keinen
Sauerstoff mehr und nichts kann vergammeln. Wahrscheinlich werden wir auch noch die erste Arche Noah dir unten finden. Die Bibel verschweigt uns nämlich, dass Noah zwei Schiffe gebaut hat, eines
überstand die Sintflut und das andere sank im Schwarzen Meer. Mit all den Tieren an Bord, die wir heute natürlich nicht kennen, haben ja nicht überlebt, aber da unten sind sie alle versammelt:
der Werwolf, der Greif, das gemeine Hanghuhn, das Quastentier und der BigFoot natürlich, konserviert wie in einer Sardinendose. Du hast völlig recht: Es muss erforscht werden, was da unten los
ist. Vielleicht habe die Atlantiker auch einen Weg gefunden, unter Wasser zu leben, als so eine Art Menschenfische, Lunge und Kiemen zugleich und führen da unten eine Art Priesterleben, wobei
jede kleinste Sauerstoffblase verehrt wird wie eine Offenbarung, Gut, dass ich immer einen Taucheranzug dabeihabe, man weiß ja nie, wann man untertauchen muss.
LILA: Kasimir, ich traue dir alles zu! Du bist doch mein Held! Mit dir tauche ich bis in die tiefsten Tiefen - da sind 2000 Meter rein gar nichts!
Guck mal, da hinten, am Horizont! Über das Fabulieren hast du gar nicht gemerkt, dass wir uns Budapest nähern.
Auf dem Rückweg möchte ich hier noch ein, zwei Tage verbringen. Guck mal, wie schön! Ich navigiere dich jetzt hier durch und dann zu einem Stellplatz. Irgendwann müssen wir auch mal schlafen,
sonst kommen wir vor lauter Schwadronieren nie in Rumänien an! Und die anderen erwarten uns doch morgen in Borsec. Ich gucke gleich mal, ob Florin schon geschrieben hat.
KASIMIR: Wenn ich an Florin denke, habe ich immer seinen hohen Zylinderhut im Kopf, mit dem er sich für seine Webseite hat fotografieren lassen. Kann mir keinen rechten Reim
daraus machen, außer, dass da drunter ein Kaninchen hockt, für den Notfall. Wenn wir ihn treffen, muss ich ihn unbedingt fragen, was man nicht sonst noch alles unter dem Zylinder hervorzaubern
kann, ist vielleicht ein Chapeau Claque, der bis zu einer Höhe von 10 Metern ausgeklappt werden kann. Was man dann nicht alles auf dem Kopf tragen könnte! Ich als Bremer auf jeden Fall einen
Esel, einen Hund, eine Katze und einen Hahn.
So, hier, keine Ahnung, wo wir hier sind, sieht aber aus wie ein Ort, den außer einigen Ungarn noch niemand betreten hat, hier zwischen Fußballplatz und Dorfkneipe. Tja, auch der Ungar muss mal
ganz vulgär sein können, obwohl er zum klügsten Volk der Welt gehört. Das ist bewiesen. Aus keinem anderen Land der Erde sind nämlich mehr Nobelpreisträger entsprungen als aus Ungarn. Bin mir
sicher, das liegt am Palinka.
5. Szene
LILA: Kasimir, wach auf, es gibt Kaffee! Wir haben schon wieder so lange geschlafen. Dieses Pössl-Bett ist einfach zu gemütlich. Oh, jetzt habe ich dir glaube ich zu viel Milch
eingeschüttet. Guck mal raus: Es regnet. Ob wir es heute wohl bis Borsec schaffen? Ich glaube, wir sind die lahmarschigsten Pössllisten der Welt.
KASIMIR: Der Pössl ist ein Raumschiff, gerade in Momenten wie diesen, Morgenstunde, ein leichtes Flackern im Gehirn, Halbschlaf, langsam wird Dopamin ausgeschüttet, aber die
Freuden sind nur Simulation, draußen Meteoritenschauer und viele Lichtjahr von der Erde entfernt, nennen wir den Ort Ungarn, dann fühle ich mich wie Captn Kirk, der nach einer längeren
Nacht in der Bar an Bord die ersten Logbucheintragungen machen muss. Expedition im Halbschlaf, das ist ein Art Glücksmoment! Also: Was ist los in Ungarn? Eines muss ich jedoch sagen: Dieser
Pössl ist alles andere als mit Warp-Geschwindigkeit unterwegs, eher langsamer als jedes Licht und jeder Schall, würde mich nicht wundern, wenn wir irgendwann in dieser umgekrümmten Zeitraumkapsel
verblassen und lautlos werden. Unser erster Offizier und Navigator Pavel Chekov meldet: Wenn es weiter so geht mit dieser Unterschallgeschwindigkeit, dann sind wir heute wieder in Dresden.
Schlage also vor, Borsec wenigstens mit Zeitrafferhyperlapse anzufahren, also: Spucke in die Hand und los!
LILA: Okay. Lieutenant Uhura meldet: Bahn frei für den Abflug, ein Angriff von außen ist momentan nicht zu erwarten - die Wesen, die draußen im Regen herumlaufen gehören
eindeutig zur Spezies Mensch. Nur einer lässt sich so schnell nicht identifizieren, Moment, ich berechne die Längs- und Querachsen seines Kleinhirns noch einmal - ja, meine Vermutung hat sich
bestätigt: Es ist ein nasser Hund."
Warte, lass mich fahren!
Wusstest du, dass Uhura die erste Afroamerikanerin - darf man das noch sagen? - war, die in einer US-amerikanischen Serie einen Weißen geküsst hat - nämlich: Tatatata! Caiptn Kirk, den alten
Schlawiner. Und sie war die erste Schwarze, die in einer Führungsposition gezeigt wurde - und das im Weltall! - klar war sie Kommunikationsoffizier, Frauen sind ja meistens für die Kommunikation
nach außen und innen zuständig - aber immerhin! Für ihre Rolle wurde die Schauspielerin, der Name fällt mir gerade nicht ein, von vielen Amis angefeindet. Deswegen wollte sie nach der
ersten Staffel schon das Handtuch werfen - aber da ist ihr ihr größter Fan, nämlich Martin Luther King höchstpersönlich, zur Seite geeilt und hat sie überredet, weiterzumachen. Sie sei ein
Symbol, hat er argumentiert, sie dürfe die Rolle nicht aufgeben. Und außerdem: Uhura bedeutet "Freiheit"!
--- Ich glaube, wir sind hier am Arsch der Welt gelandet. Guck mal, diese piekfeinen Vorgärten! Wo hat die Tussi uns hier eigentlich schon wieder hingeführt? Das ist doch eine 30er Zone,
die Straße führt mitten durch ein Wohngebiet. Na, wird wohl eine Abkürzung sein. Herr Pössl soll ja auch ein bisschen was von Land und Leuten sehen. Aber ob wir es so heute noch bis Borsec
schaffen? Wie weit ist es denn noch bis zur rumänischen Grenze? Guck doch mal nach. Vielleicht sollten wir doch mal ein Stück Autobahn fahren...?
KASIMIR: Wir fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn. Nehmen wir die Autobahn, dann begeben wir uns in einen Tunnel der Wahrnehmung, wie Kraftwerk ganz richtig besungen hat.
Kein Ungarn, kein Rumänien. Die Fahrbahn ist ein graues Band, weiße Streifen, grüner Rand. Eigentlich sind Autobahnen Nicht-Orte und es kann einem mitunter passieren, dass die Monotonie
einem glauben macht, man würde sich gar nicht bewegen. Dann wird alles eine Illusion, nur das Geräusch der rollenden Reifen ist dann echt. Ich bin mir sicher: Im sagenhaften Jahr 2050 werden wir
in Hochbeschleunigungskapseln unterwegs sein in Tunneln und auf Magnettrassen. Wir werden uns mit 500 km/h fortbewegen. Wie heißt es bei Kraftwerk? Vor uns liegt ein weites Tal. Die Sonne scheint
mit Glitzerstrahl. Nur diese Sonne wird auf riesigen Monitoren wiedergegeben werden, zur Entspannung. Bis dahin ziehe ich es vor mit 50 km die Stunde unterwegs sein, auch mit der Gefahr
kreuzenden Verkehrs. Dann weiß ich auch genau, dass ich in Ungarn unterwegs bin und nicht in einem Tunnel der Illusionen. Hiermit erkläre ich im Namen des Pössls: Niemals Autobahn!
LILA: Okay, "Niemals Autobahn" ist unsere Losung! Bis jetzt sind die Straßen auch noch gut befahrbar - in Rumänien soll ja ein Schlagloch auf das andere folgen. Wahrscheinlich
wie in Kirgistan. Weißt du noch, da hieß es "Nur ein betrunkener Kirigise fährt geradeaus!"
"Tunnel der Illusionen" gefällt mir übrigens sehr. Ein poetischer Ausdruck wahrscheinlich auch für alle unsere Pössl-Touren - ob nun mit oder ohne Autobahn. Wir sitzen hier in unserer
Pössl-Kapsel und erwarten... ja, was eigentlich? Abenteuer? Erkenntnisse? Freiheit? Glück? Man erhofft sich doch auf so einem Trip immer etwas und weiß oft gar nicht, was. Ich zumindest bin mir
da nicht sicher. Mit Freiheit hat es jedenfalls zu tun. Es ist schön, unabhängig unterwegs zu sein, anhalten zu können, wo man will, übernachten zu können, wo man will. Aber da ist noch mehr. Ich
glaube, es hat mit Veränderung zu tun. Manchmal hoffe ich auf den großen Schlag, die eine Sache, die das Leben in eine ganz andere Richtung führt - das war eigentlich schon immer so, seit ich
reise. Aber noch nie hat eine Reise mein Leben tatsächlich komplett auf den Kopf gestellt. Aber was nicht war und ist, kann ja noch werden. Auf nach Rumänien, dem Land der tausend
Illusionen!